Am Sterbebett

Heute war wieder einer dieser verdammten Tage, an denen ich es so sehr gebraucht hätte, wenn du nur gesund gewesen wärst. Ach, hätte dich diese Seuche doch nur nicht erwischt und hättest du doch nur länger mit uns gemeinsam gegen die Unterdrücker ausziehen können. Deine Steinschleuder hätte uns sicher heute das eine oder andere Leben gerettet.

Die Blicke von Hirias waren fest auf das kleine Büchlein gerichtet, das vor ihm lag. Ein winziger roter Punkt auf dem Pergament war das einzige Anzeichen dafür, in welchen Zeiten sie hier lebten. Vassilis hatte sein Tagebuch stets behütet wie seinen eigenen Augapfel. In Stoff eingeschlagen hatte er das Büchlein stets direkt am Körper getragen, sodass bloß keine Spur Schlamm und kein Körnchen Staub die Mitschrift seines Innerstens befleckte.

Deine Hand fühlt sich so zart an, wenn ich sie streichle. War das schon immer so? Wie ist dir das nur gelungen? Gerade in diesen Zeiten? Bei Lysandria, wie ich dich lieben würde, würdest du doch nur wieder gesund werden. Ich bin mir sicher, diese Zeit wird kommen. Bevor wir heute ausgezogen sind, hatte Iskrates im Gebet von der Hoffnung erzählt und dem Licht, das über den letzten Wald strahlen wird, sobald die Fesseln des Lotus endgültig zerbersten und wir endlich die Häuser wieder aufbauen. Das wird unsere Zeit, Hirias.

Der Kohlegriffel bewegte sich mit sehr sorgfältig geführten Strichen auf dem kleinen Stück Stoff. Hirias bewegte die Worte seiner Fürbitte immer wieder mantraartig in seinem Kopf, während er die Umrisse des Laasenblattes auf den Fetzen zeichnete. Er erinnerte sich an den Moment, als Vassilis ihm seine Liebe gestanden hatte. Die beiden hatten nebeneinander ein Lager bezogen. Zwischen ihren Schlafplätzen war etwa ein Schritt breit Platz geblieben. Als Hirias aufwachte, war genau dort zwischen ihnen aus hunderten Laasenblättern ein Herz auf den Boden gelegt. So war die Laase zu ihrem Baum geworden. 

Heute ist es uns endlich einmal wieder gelungen, eine Gruppe Danamæ lebend und unverletzt zu befreien. Elf Frauen und Männer, sie haben sich alle sofort unserem Partisanenkampf angeschlossen. Da wir bei dem Angriff keine eigenen Verluste hatten und alle die Ewigen hinter sich wähnten, gingen wir bei Einbruch der Dunkelheit noch einmal raus und versetzen dem Basaltlotus einen heftigen Schlag. Wir sind uns sicher, heute war nicht nur ein kleiner Lichtblick nach einigen trübseligen Tagen. Das Blatt wendet sich. Es wird Zeit, dass du wieder gesund wirst. Auch bei dir geht es bergauf, sagen die Heiler. Sie denken, dass du wohl in den nächsten Tagen wieder aufwachen solltest. Möge ihr Licht deinen ersten Augenschlag begleiten!

“Brüder und Schwestern, es ist soweit,” Iskrates und Ari sahen mit müden, schweren Blicken in die Runde der Trauernden. Neben Hirias lagen nun zwei Tüchlein, die das Symbol des Laasenblattes trugen. Er nahm eines davon in die Hand und führte es zu einem letzten Kuss an seinen Mund. Seine Lippen schmecken die salzigen Tränen, die das gezeichnete Laasenblatt an ein paar Stellen schon verwaschen hatten. Sorgsam legte er das Tuch nun auf Vassilis Brust und faltete dessen Arme darüber. Die tödlichen Wunden hatte er soweit gesäubert und zugenäht. Das änderte aber nur wenig daran, das Vassilis nackter Körper gezeichnet und geschunden wirkte. “Symbole der Freiheit”, sagte sich Hirias beim letzten Blick auf den Geliebten. Er sprach seine Fürbitte, bevor die Trägerinnen kamen und den Leichnam auf den Haufen zu den anderen brachten. Hirias sank auf den Boden. Er fiel in eine Leere, nahm seine Umgebung nur noch schemenhaft wahr. Bevor der leider viel zu vertraute Geruch von brennendem Holz und Fleisch die gesamte Lichtung einnehmen würde, hörte noch stumpf die Stimme der Glaubensbringerin, wie sie den Heldinnen und Helden einen Segensspruch schenkte. Möge ihr Licht ewig scheinen.